I’m still standing – Gedanken einer Lehrerin zum Schuljahresende

Lichtkegel kreisen, und die Halle ist voll. 2000 Schülerinnen und Schüler haben sich versammelt, um das Schuljahr gemeinsam zu beschließen.

Sicherheitsbeauftragte in orangen Westen und der Schulsanitätsdienst sind vor Ort. Mancher läuft noch geschäftig durch die Reihen, und dann geht es los.

Das Live-Programm besteht aus dem Gesang des Chors, einer Darbietung der „Hamletmaschine“ durch die Theater-AG und der Bigband.

Alles großartig. Ich bin begeistert.
Der Film, den die Vorbereitungsgruppe dieser Schuljahresabschlussfeier gedreht hat, zeigt Interviews und die Dokumentation diverser Schulereignisse und Orte. Ich ahne nur, wie viel Arbeit das gewesen sein muss.

Und immer Musik.

Sie spielen „I’m still standing“ von Elton John. „You could never know what it’s like.”

Ja. Wir haben wieder ein Schuljahr geschafft. Wir haben es bearbeitet, durchgehalten und  vor allem: erlebt. Es war mein vierundzwanzigstes am Ulricianum. Ich gehöre zum alten Eisen. Ich bin Urgestein. Das gefällt mir. Meine heutigen Schüler waren noch nicht einmal gezeugt worden, als ich zum ersten Mal meine Schultasche in Aurich packte. Viele Jahre sind vergangen. Es gab Robert Steinhäuser, Amerika hatte Donald Trump, und jetzt muss sich ganz Europa mit Putins Eroberungskrieg beschäftigen. Wir haben das Klima ruiniert und tun uns schwer damit, die möglichen Reißleinen jetzt noch zu ziehen. Was für Zeiten!
Auch in diesem Schuljahr haben wir im Unterricht diskutiert. Welche Haltung können wir einnehmen zu dieser Welt, in der wir leben? Der Rückzug in Sehnsuchtsschleifen, den die Romantiker wählten, erscheint manchem attraktiv, die Wut der Aufklärer berechtigt. Auch die Todesnähe des Barock findet sich in unseren Gesprächen wieder und alles Düstere des Expressionismus. Wo stehen wir in unserem Ringen mit uns und der Welt? Die Antworten sind nicht leicht zu finden. Das wird so bleiben.

Aber wir haben es gut miteinander. Es war schön, von euch zu hören, was ihr denkt, und manchmal, was ihr fühlt.

Manches macht uns Angst, und vieles macht uns Mut.
„Sie mir Ihrer alternativen Pädagogik“, sagt Simon an dem schönen Abend in meinem Garten mit Lagerfeuer. Als ich ihn frage, was er meint, erläutern mehrere zusammen, dass es „persönlich“ sei mit mir, im Unterricht und auch so.  Ja, was denn sonst, Kinder? Das hier ist unser Leben!

“Well look at me, I’m coming back again
I got a taste of love in a simple way…”

Jetzt sind wir auf dem Sprung in die Sommerferien. Sie sind nah und nötig. Erschöpfung machte sich breit in den letzten Wochen. Auch bei mir. Wir haben wieder alles gegeben. Jeder, wie er kann.
Heute feiern wir den Schuljahresabschluss, mit großem Tamtam in der Sparkassenarena.
Ich gebe zu: Es ist nicht mein Lieblingsformat. Ich bin die Lehrerin für die stille Besprechung von Texten, auch den eigenen. Ich bin die für die bitteren Tränen hinter der geschlossenen Tür des Beratungszimmers. Ich bin die für all diese Stundenprotokolle und den Ärger über das Zuspätkommen.
Aber das ist schon was, was hier heute eine Gruppe von Schülern mit der Unterstützung von Lehrkräften auf die Beine gestellt hat. Chapeau! 

Wir haben die Pandemie überstanden. Mancher hat Federn gelassen, und für alle war es ziemlich schwer.

Wir dürfen wieder ohne Maske Unterricht machen, Fahrten unternehmen und zum Stockbrot um ein Feuer sitzen. Endlich.

Eure Gesichter können mir so viel erzählen, und das meine euch.

Schön, euch zu sehen.

Jede Generation hat ihre eigenen Themen und Turnschuhe, immer neue Wörter und digitale Plattformen. Ich komme nicht mehr mit. Tiktok will ich nicht, auch nicht Instagram.
Sintje macht ein Foto von uns beiden für BeReal. Ob uns das wirklicher machen wird? Ich habe meine Zweifel.

Ich liebe sie, meine jungen Leute, immer. Mit allen gibt es etwas zu erleben. Jeder von uns ist ein ganz eigener Spezialfall.

Musik und Licht und viel Applaus.

Ich bin ein bisschen gerührt.
Das hier ist meine Schule. Das hier sind meine Schülerinnen und Schüler, Kolleginnen und Kollegen. Sie alle sind Teil meines Lebens. Ich bin die alte Schachtel, in der die Erinnerungen von Jahrzehnten liegen. Ich bin das Urgestein.

Wir werden das zusammen angehen, mit dem Klima und den Kriegen, der Ungerechtigkeit und all unseren Ängsten und Zweifeln. Wir werden dranbleiben und weiterringen mit alledem.
Und ab und zu werden wir zusammensitzen, so wie heute, und feiern.

Kraft schöpfen.

Einander der gemeinsamen Sache vergewissern.
Wir sind das Ulricianum.
Wir machen Schule.

Wer, wenn nicht wir! Und natürlich Elton John.

“Don’t you know I’m still standing better than I ever did
Looking like a true survivor, feeling like a little kid
I’m still standing after all this time …”

Im August beginnt ein neues Schuljahr.

Ich werde da sein.

Christine Korte

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