Seid Menschen!

Der Übergang

Mein Name ist Jan Birkner. Ich bin 95 Jahre alt und lebe mit meiner Frau in Leer. Seit letztem Jahr bin ich in Pension. Mit uns wohnt Na-Ri im Haus. Sie kommt aus Korea. Na-Ri macht den Haushalt, trägt die Wasserkisten, repariert alle Geräte und kocht auf Sterneniveau Mahlzeiten beliebiger internationaler Küchen. Falls wir mal krank sind, hebt sie uns mit Leichtigkeit aus dem Bett und summt dabei leise Stockhausens Gesang der Jünglinge. Sie kann auch Lieder von Micky Krause grölen, meine Frau will das nicht. Na-Ri versorgt weitere 20 Haushalte in der Umgebung. Ausruhen muss sie sich nicht, eine Ladestation im Keller lädt Na-Ris Akkus in 10 Minuten wieder auf. Na-Ri ist ein humanoider Roboter, sieht aus wie ein Mensch und befindet sich motorisch weit über dem Niveau von Weltklasseathleten. Sie ist mit allgemeiner künstlicher Intelligenz ausgestattet, nach dem reformierten IQ-Konzept wird Na-Ris Intelligenzprofil auf 100 Einsteins geschätzt. Gedrosselt. Ich könnte mich mit Na-Ri über die Tiefen der Stringtheorie oder Quantengravitation Schwarzer Löcher unterhalten, ich habe davon leider keine Ahnung, ich bin zu blöd. Mich tröstet, dass es allen Menschen so geht. Man kann diese Roboter in allen Geschlechtsnachahmungen erwerben, wir haben uns bewusst für ein weiblich gelesenes Modell entschieden. Meiner Frau ist es lieber, wenn die Allwissenheit im Haus so tut, als wäre sie eine Frau. Einen weiteren Mann würde sie im Haushalt nicht ertragen, auch, wenn er nur vorgibt, einer zu sein. Ich kann sie verstehen. Es gibt mittlerweile viele humanoide Roboter für alle Bereiche des Arbeits- und Privatlebens.
Industrieproduktion, Softwareentwicklung und Verwaltung, viele kognitiv anspruchsvolle Aufgaben werden von Robotern oder KI-Agenten erledigt. Im Medizinbereich und der Pflege werden Humanoide wie Na-Ri eingesetzt. Auch ich konnte mich dem Fortschritt nicht entziehen. Ein kleiner Chip unter meiner Haut misst meine Körperfunktionen und wertet in Echtzeit Daten aus, die dezentral in einer Blockchain gespeichert werden. Ist mein Insulinspiegel zu hoch, wird automatisch die Anmeldung zum Koronarsportkurs getriggert. Ende der 20er-Jahre erreichten wir die technologische Singularität und stürzten auch im Bildungssektor in eine tiefe Krise. Arbeit fiel für viele Menschen als Vehikel zur Identitäts- und Sinnstiftung weg, es mussten neue Wege im Verhältnis des Menschen zu seinem Leben und der Frage „Was mache ich mit meiner Zeit?“ gefunden werden. Dies hatte natürlich auch Auswirkungen auf die Schule. Als die Wissenschaft nachgewiesen hatte, dass der Konsum von Tiktokvideos und Instagramreels mit dem Absterben von Gehirnzellen, psychischen Erkrankungen und dem massiven Anstieg von Insulinresistenz bei Jugendlichen korreliert, begann weltweit ein Umsteuerungsprozess. Die Sofakartoffelpandemie haben wir lange hinter uns gelassen. In der Schule hat sich viel verändert. Nachdem in Berlin auch der letzte pädagogische Hinterwäldler begriffen hatte, dass tägliche Bewegung nicht nur für Gesunderhaltung des eigenen Körpers, sondern auch für die Entwicklung des Gehirns und das seelische Wohlbefinden Heranwachsender von entscheidender Bedeutung ist, wurden evidenzbasierte Maßnahmen ergriffen Beispiel?

Im Jahre 2025 nahmen vom Ulricianum im Schnitt 50 Schülerinnen und Schüler am Ossiloop teil. Mittlerweile läuft die ganze Schule. Alle Schulen Ostfrieslands sind dabei. Die Gesamtteilnehmerzahl hat die 500000-Marke weit überschritten. Die Aurich-Etappe endet für die Ulricianer traditionell vor dem Denkmal der zwei Ossiloopvisionäre des Ulricianums an der neuen für 0,01 BTC gebauten World Mobile Arena. 

Focko Penon und Marcus Struckmeyer, mittlerweile über 300 Etappen auf der Uhr, hatten 2025 schon die 100 Etappen geknackt, noch bevor der richtige Boom los ging.  Struckmeyers Höschen hängt seit Jahren hinter Panzerglas im Foyer. Focko Penons Luftballons zur 100. Etappe konnten leider nicht gerettet werden. Focko läuft heute immer noch mit.

 

 

He hört nix mehr,

man lopen kann he noch.

 Auch sonst hat sich viel verändert. Es hat etwas gedauert, bis wir erkannten, dass die uns in den meisten Bereichen überlegene KI und Robotik eins nicht kann – das Menschsein. In der Schule gehen wir jetzt mehr raus. Wir machen viel Musik, spielen Theater oder betätigen uns künstlerisch. Philosophie, reale soziale Interaktion und Kommunikation, Gemeinsamkeit und gepflegte Debattenkultur offline sind Schwerpunkte im Unterricht. Und natürlich viel, viel Sport
in all seinen Erscheinungsformen und pädagogischen Perspektiven. Wir haben letztlich die Kurve noch gekriegt. 2025 starb Margot Friedländer im Alter von 104 Jahren, eine Kämpferin gegen das Vergessen und für das Gute. Berühmt sind ihre Worte, die sie vor einem halben Jahrhundert im Kontext ihrer Erfahrung als Überlebende der Schoa an die Zuhörer bei der Verleihung des Friedenspreises richtete. Damals ahnte Friedländer nicht, dass diese Worte, in einem ganz anderen Zusammenhang gesehen, fundamentale Bedeutung für unser Leben erlangen würden.
Seid Menschen!

Ein Beitrag von Jan Birkner 

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